Festvortrag von Prof. Dr. Klaus Raschzok , 1. Vorsitzender der Marienberger Vereinigung, zum 90. jährigen Jubiläum der Marienberger Vereinigung 2014
Paramentik als kirchliche Textilkunst und Schmuck der heiligen Orte im Kirchenraum stellt in mehrfacher Hinsicht eine grenzüberschreitende Kunstform dar: Ich stelle Ihnen heute Abend sechs Grenzüberschreitungen aus der Geschichte der Marienberger Vereinigung für evangelische Paramentik vor. Die Marienberger Vereinigung für evangelische Paramentik begeht heute ihren 90. Geburtstag hier an ihrer Gründungsstätte und an ihrem Vereinssitz, dem Kloster St. Marienberg, dem sie seit 1924 eng verbunden ist. Die sechs Grenzüberschreitungen beziehen sich (1) auf die historistischen Stilformen der klassischen evangelischen Paramentik des 19. Jahrhunderts, (2) auf die Zusammenarbeit der Werkstätten in West- und Ostdeutschland während der Zeit der deutschen Teilung, (3) auf den christlichen Gottesdienst zwischen Himmel und Erde, (4) auf die Grenzüberschreitung wischen Handwerk und Kunst, (5) zwischen Leben und Tod und schließlich (6) zwischen den getrennten christlichen Konfessionen. Alle diese sechs Grenzüberschreitungen prägen bis heute das Selbstverständnis der Paramentikwerkstätten in kirchlicher Trägerschaft im deutschsprachigen Raum. (1) Grenzüberschreitung der historistischen Stilformen der klassischen evangelischen Paramentik des 19. Jahrhunderts Die Gründung der Marienberger Vereinigung für evangelische Paramentik 1924 hier im Kloster St. Marienberg in Helmstedt vollzog sich in einer Krise der evangelischen Textilwerkstätten: Die schwierige gesamtwirtschaftliche Lage im Deutschen Reich wirkte sich auch auf die evangelischen Kirchen in der Weimarer Republik aus. Für die evangelischen Kirchen bedeutete dies vor allem das Ende des Landesherrlichen Kirchenregimentes 1919 und die damit verbundenen Folgen einer kirchlichen Neuorganisation. Für die Werkstätten vollzog sich ein Rückgang der Aufträge mangels finanzieller Spielräume der Kirchengemeinden für die Kirchenausstattung. Zugleich aber vollzog sich in der evangelischen Paramentik auch eine künstlerische Krise: Hatten bislang die historistischen Vorlagen des Herrnhuters Eugen Beck und seines Muster-buches die Arbeit der Werkstätten bestimmt, so wurde nun zunehmend deutlich, dass dieser Weg an sein Ende gelangt und eine Neuorientierung der kirchlichen Textilkunst erforderlich war. Die beiden zu ihrer Zeit in kirchlichen Kreisen hoch anerkannten Künstler Rudolf Koch und Rudolf Schäfer stehen für die vollzogene künstlerische Grenzüberschreitung hin zu einer neuen Ausdruckssprache: die Rückkehr zu natürlichen Materialien, zur ausschließlichen Handarbeit, vor allem am Webstuhl, und zu einem neuen Formenkanon sogenannter christlicher Zeichen b w. Symbole. Heimatkunstbewegung und Neue Sachlichkeit gingen in Rudolf Koch und Rudolf Schäfer für die evangelische Paramentik eine prägende Verbindung ein. Verbunden war dies mit dem Beginn einer neuen Ausbildungstradition der kirchlichen Textil-Werkstätten, die ihren Ausgangspunkt in der Paramentik des Klosters St. Marienberg fand. St. Marienberg in Helmstedt nahm schon von Anfang an eine führende Rolle in der durch Wilhelm Löhe 1858 begründeten evangelischen Paramentenbewegung ein. 1862 fand die Gründung des Niedersächsischen Paramentenvereins in Kloster St. Marienberg in Helmstedt durch die dortige Domina Charlotte von Veltheim und ihre Konventualin Gräfin Anna von der Schulenburg statt. Ein enger Kontakt wischen der Domina Charlotte von Veltheim und Wilhelm Löhe, brieficher Austausch über Fragen der Paramentik ging dieser Gründung voraus. Auf dieser Basis entwickelte sich die Tradition der Paramententage des Niedersächsischen Paramentenvereins, die von 1864 bis 1902 regelmäßig abgehalten wurden. 1885 fand der erste allgemeine Paramentenkongress in St. Marienberg mit allen bis dahin bestehenden acht deutschen evangelischen Paramentenvereinen aus den Diakonissenmutterhäusern statt. Der Paramententag 1924 in St. Marienberg mit Vertreterinnen der meisten Werkstätten widmete sich der Erörterung der Situation der evangelischen Paramentik nach dem Ende der Inflation. Aus der Diskussion mit Theologen und Künstlern, darunter der bereits genannte Rudolf Schäfer, erwuchs der Zusammenschluss zur Marienberger Vereinigung für evangelische Paramentik. Den Vorsit übernahm Gräfin Gertrud von der Schulenburg, 1927 folgte ihr Irmentraud von der Schulenburg, die bis 1978 als erste Vorsitzende amtierte. Dem Vorstand gehörten immer auch ein Theologe und ein Künstler an; letzterer war über lange Jahre Rudolf Schäfer und ab 1941 der Bildhauer Arnold Rickert. Beschlossen wurde die Durchführung eines Paramententages alle zwei Jahre, und der erste Paramententag konnte 1926 abgehalten werden. Als entscheidender Wendepunkt in diesem Zusammenhang ist der Kontakt der Helmstedter Conventualin Magdalene Beer u Rudolf Koch in Ozenbach zu sehen. Rudolf Koch lehrte als Professor an der dortigen Kunstgewerbeschule. Er war in erster Linie Schriftkünstler und betrieb eine Werkstatt für kirchliches Gerät. Ihm verdankt die evangelische Paramentik den Grundsat der Materialechtheit und der Handarbeit. Nicht mehr Arbeit mit Tuch, Samt und Applikation wie in den Anfängen der Paramentik seit Mitte des 19. Jahrhunderts sollten die Werkstätten bestimmen, sondern zukünftig nur noch die Arbeit mit selbst gesponnenem und gewebtem Leinen, das Sticken mit Nonnenstich, das Färben mit Pflanzenfarben wie die Verwendung von Symbolen und Schriftzügen, vor allem biblischen Zitaten. Damit hielt die Neue Sachlichkeit Einzug auf der Ebene der Paramentengestaltung. Rudolf Koch war bis u seinem Tod 1934 Mitglied des Vorstandes, ebenso wie Rudolf Schäfer. Beide waren führende Künstler ihrer Zeit. Rudolf Schäfer (1878 –1961) gilt als der entscheidende protestantische Maler der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Er hatte an der Münchener und Düsseldorfer Akademie studiert und war Schüler Eduard von Gebhardts. Seit Mitte der 1920-er Jahre empfing er hohe Anerkennung in kirchlichen Kreisen. Zuvor stellte überwiegend die Zeichnung den Schwerpunkt seiner Arbeit dar, vor allem im Bereich der Bibel- und Gesangbuchillustration. Bereits als Akademieschüler fertigte er Entwürfe für Paramente und engagierte sich im Niedersächsischen Paramentenverein. Später prägte die Biblische Malerei für Kirchenausstattungen sein Werk. Entscheidende theologische Anstöße erhielt Schäfer durch das konfessionelle Luthertum August Vilmars und Wilhelm Löhes und entwickelte daraus seine „Lutherische Ikonographie“ und retrospektive Gemeindekunst, die als Teil der Heimatkunstbewegung zu verstehen ist. Durch ihn erfolgte eine Neubelebung der sogenannten christlichen Kunst und zugleich die Überwindung des Historismus, der seit dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts die kirchliche Kunst bestimmt hatte. Rudolf Schäfer schuf überwiegend Arbeiten für Diakonissenmutterhäuser und entwickelte da zu eine spezifsche Ikonographie für Diakonissenkirchen und -kapellen, so um Beispiel auch für Neuendettelsau, wo er 1933 das Triptychon „Die Wunderblume“ (auch: „Die blaue Blume“) für die Aula des Schulsaales im Zentralschulhaus der Diakonissenanstalt schuf. Paramentik war für Schäfer Dienst des Künstlers an der Kirche. Strikt lehnte der die Verwendung von Fabrikware für den Schmuck des Altares und des Kirchenraumes ab, da sie für ihn mangelnde Ehrfurcht und Wahrhaftigkeit ausdrückten. 1928 wurde ein dreijähriger Ausbildungsgang zur Paramentikerin auf Anregung Rudolf Kochs geschaffen und staatlich anerkannt. St. Marienberg entwickelte sich da zu als zentrale Ausbildungsstätte. Bis 1974 wurden 42 Lehrlinge und eine Reihe von Meisterinnen durch die beiden Conventualinnen Anna Hosbach und Magdalena Beer ausgebildet. 1941 fand der letzte evangelische Paramententag vor dem Ende des Zweiten Weltkrieges statt, dem erst 1949 wieder eine Vorstandssitzung der Marienberger Vereinigung für evangelische Paramentik folgte. 1934 zeichnete die Marienberger Vereinigung für die Publikation „Heiliger Schmuck. Von der Herrichtung gottesdienstlicher Stätten“ verantwortlich, die als theologische Grundlage der Arbeit der Werkstätten gedacht war und vom Erlanger Professor für Praktische Theologie Friedrich Ulmer herausgegeben wurde. Im Zentrum dieser Schrift stand die Wiederentdeckung des geistlichen Anliegens von Wilhelm Löhe für die evangelische Paramentik mit dem engen Zusammenhang von lutherischem Bekenntnis und Schmuck der Heiligen Orte. Diese Bestärkung der Position Wilhelm Löhes („echte Paramentik“) voll zog sich in Abgrenzung von der „hausfraulichen Kunst“, die bis dahin ebenfalls weite Bereiche in der evangelischen Paramentik im Gefolge des sächsischen Pfarrers und Löhe-Zeitgenossen Morit Meurer bestimmt hatte: „Wer nun vom Wesen echter Paramentik wenig berührt ist, der bringt ins Gotteshaus, ja zwingt ihm auf, was ihm persönlich gefällt und womit er seine Kunstfertigkeit an den Tag legen kann, zum Beispiel aus dem Gebiet der im engeren Sinne sogenannten ‚weiblichen Handarbeiten’. Wer dagegen den Geist echter Paramentik in sich hat, der wird in solchem Falle seinem eigenen Können eher wenig als zu viel zutrauen. Er wird deshalb lieber nach dem Rate der Erfahrenen als nach dem vielleicht noch nicht geschulten eigenen Geschmacke sich richten und wird gut dabei fahren. Vor allem wird es ihm widerstreben, etwas ins Gotteshaus zu bringen, was schnell, bequem und mit geringen Kosten gemacht ist; eine Zeit langer, sorgfältiger Vorbereitung, ihm selbst eine Zeit der Vorfreude, wird der Würde der Arbeit nur zustatten kommen.“ (2) Grenzüberschreitung im geteilten Deutschland Wie viele andere Arbeitsbereiche der evangelischen Kirchen und ihrer Diakonie wurde auch in der Paramentik eine Zusammenarbeit der Werkstätten über die alliierten Besatzungszonen Deutschlands hinaus gepflegt. An ihrem Anfang stand die Aufgabe, kriegszerstörte und durch die Wanderungsbewegung der deutschen Bevölkerung neu entstehende Heimatvertriebenengemeinden mit Paramenten auszustatten. 1954 erscheint die Schrift „Grundfragen der Paramentik“ als Dokumentation eines die neu gegründete DDR und die Bundesrepublik verbindenden Paramententages in Helmstedt mit damals führenden Theologen als Referenten. Der Leiter des Kunstdienstes der sächsischen Landeskirche Pfarrer Dr. Christian Rietschel (Dresden) referierte dabei über „Altargestaltung und Kirchenbau“. Auch mit der Schließung der innerdeutschen Grenze wurde die regelmäßige Teilnahme von Vertreterinnen und Vertretern der Werkstätten in den Kirchen und der Diakonie der DDR nicht unterbrochen, vor allem natürlich im Rentenalter mit der entsprechenden Ausreiseerlaubnis. Aber auch Referenten aus den evangelischen Kirchen der DDR waren immer wieder auf Paramententagen in Westdeutschland tätig. Die Teilung Deutschlands nach 1945 wurde damit von der Marienberger Vereinigung lange Zeit ignoriert. Zu erwähnen ist vor allem der intensive briefliche Kontakt der Werkstätten in Ost und West über die Marienberger Vereinigung, aber auch die regelmäßige Materialhilfe für die DDR-Werkstätten aus der Bundesrepublik. 1973 wird Pfarrer Karlheinz Meißner, der Leiter des kirchlichen Kunstdienstes Erfurt, als DDR-Vertreter in den Vorstand der Marienberger Vereinigung berufen. Die 1980 staatlich erzwungene Gründung der DDR-Arbeitsgemeinschaft für Paramentik hatte bis 1991 Bestand. Wie in allen weiteren gemeinsam über die innerdeutsche Grenze hinweg betriebenen Arbeitsgebieten (im Bereich von VELKD und EKU vor allem die Agenden- und Gesangbucharbeit) dauerte die staatlich erzwungene organisatorische Trennung bis 1991 an. Aber bereits der § 1 der Ordnung der DDR-Arbeitsgemeinschaft für Paramentik deutete die bleibende Verbindung an. Er lautete: „Die Arbeitsgemeinschaft führt in geistlicher Verbundenheit die Traditionen der Marienberger Vereinigung für evangelische Paramentik fort.“ Eine Trennung war damit zwar de jure, nicht aber de facto erfolgt. Die Werkstätten in der DDR an den Standorten Dresden, Eisenach, Heiligengrabe, Ludwigslust und Magdeburg ließen sich nicht von ihrem intensiven Austausch wischen Ost und West in Fragen der Paramentik abhalten: Dafür steht die 1982 von der DDR-Arbeitsgemeinschaft für Paramentik entwickelte sogenannte „Kirchliche Zusatzausbildung“ für Paramentikerinnen, nach deren Vorbild 1989 auch in Westdeutschland durch die Marienberger Vereinigung diese kirchliche Zusat ausbildung etabliert werden konnte. Zu den kreativen Wegen der Überwindung der innerdeutschen Grenze in kirchlichen Angelegenheiten gehörten auch die institutionalisierten Partnerschaften der Landeskirchen und ihrer Kirchengemeinden, und auch der auf staatlichen Druck in der DDR anstelle der Mitgliedschaft der DDR-Kirchen in VELKD und EKU entstandene „Bund evangelischer Kirchen in der DDR“ setzte im Grunde die Zusammenarbeit in den ursprünglichen grenzüberschreitenden Kirchenbünden fort und vertrat die Anliegen der evangelischen Kirchen in der DDR bei der Agenden- und Gesangbucharbeit. Der Gottesdienst wurde in den lutherischen bzw. unierten Kirchen in Ost- und Westdeutschland in gleicher Gestalt mit den gleichen Agenden und Gesangbüchern die gesamte Zeit der deutschen Teilung hinweg gefeiert. Evangelische Paramentik verdankt der DDR-Paramentik wichtige Anstöße. Zwei Personen stehen dafür stellvertretend: Der Magdeburger Domprediger Giselher Quast mit seiner grundsätzlichen Reflexion der Aufgaben kirchlicher Textilkunst auf einem der westdeutschen Paramententage in den 1980-er Jahren und der Thüringer Landesbischof Werner Leich mit seinem Engagement in Fragen der liturgischen Gewänder, der für eine Öffnung der Paramentik hin zur im 19. Jahrhundert bereits ins Auge gefassten, aber aus Rücksicht auf das landesherrliche Kirchenregiment und den von ihm favorisierten schwarzen Talar mit Beffchen nicht betriebenen Arbeit an Albe, Stola und Kasel steht. Wichtige Anstöße der DDR-Paramentik für die Gestaltung von Stolen als neue Aufgabe der Werkstätten stehen in diesem Zusammenhang.
(3) Grenzüberschreitung im Gottesdienst – zwischen Himmel und Erde Paramentik stellt textile Gegenstände für den evangelischen Gottesdienst bereit, die einbezogen sind in die dort kontinuierlich vollzogene Grenzüberschreitung zwischen Himmel und Erde. Es geht durchgängig um den Schmuck des Göttlichen durch Menschenhand. Paramentik arbeitet an der Auszeichnung der Kontaktstellen im Gottesdienst, an denen sich die Gottesbegegnung vollzieht: Altar, Kanzel, Taufstein und liturgische Gewänder. Es geht ihr damit um einen gestalteten Ausdruck des Nicht-Sagbaren auf der Ebene der leiblich-sinnlichen Erfahrung. Paramentik vollzieht sich dabei als Kunst auf der Grenze, am Übergang von innen nach außen: So vermitteln die von ihr gestalteten liturgischen Gewänder zwischen innen und außen, machen das Innere ihrer Träger sicht- und spürbar, im Sinne einer körperbezogenen Textilkunst. Paramentik ist angewandte Kunst wischen gottesdienstlicher Feier und den Feiernden, eine Übergangskunst vom Alltagsraum um Festraum, im kontinuierlichen Umgang mit der Sinnlichkeit des Glaubensvollzugs. Im Rahmen dieser Grenzüberscheitung vollzieht sich auch die Zuwendung der evangelischen Paramentik zur gesamten Kirchenraumgestaltung und damit die Überschreitung des klassischen und aus unterschiedlichen Gründen im Laufe der Jahrzehnte auf den Altar-u nd Kanzelschmuck durch Paramente eingegrenzten Aufgabenkanons der Paramentik hin zur umfassenden Aufgabenstellung, die bereits Wilhelm Löhe 1858 postuliert hatte: gestalterische Verantwortung für den gesamten Umgang mit dem Kirchenraum und seiner Ausstattung als Dienst am auferstandenen Christus selbst zu übernehmen. Dazu gehört schließlich auch die Neuentdeckung der Wechselwirkung wischen Diakonie und Liturgie: Am Schmuck der Heiligen Orte wird eingeübt, was für den Schmuck der Heiligen Personen, insbesondere der Bedürftigen und Kranken gilt, in denen Christus genauso gegenübertritt wie im Gottesdienst. Hier vollzieht sich ein wechselseitiges Einüben und Erlernen. Schmuck des bedürftigen Anderen in der Diakonie und Schmuck der heiligen Orte, an denen Christus uns gegenübertritt, verlaufen so stark ineinander, dass sich am Ende die Grenzen nicht mehr scharf voneinander trennen lassen. (4) Grenzüberschreitung vom Handwerk zur Kunst Paramentik bewegt sich zwischen Handwerk und Kunst. Sie ist angewandte Kunst für den Kirchenraum. Aufgabe der Marienberger Vereinigung ist, diese Grenzüberschreitungen durch das Gespräch wischen der Textilkunst und dem Kunsthandwerk zu fördern, ebenso wie durch das Gespräch mit der Theologie und insbesondere der Liturgiewissenschaft, aber auch der Architektur und durch das Gespräch zwischen Künstlerinnen und Künstlern und Theologinnen und Theologen auf der Schnittstelle Kirchenraum und Gottesdienst. Paramentik ist damit als Querschnittsdisziplin für den Umgang mit dem Kirchenraum und seiner Ausstattung sowie für die leiblich-sinnlichen Aus-drucksgestalten des christlichen Glaubens im weitesten Sinne zu verstehen. Die Beratungstätigkeit als bisher selbstverständliche Zusatz-Dienstleistung der Paramentik bedarf jedoch der stärkeren Etablierung im Raum der Kirchen: Hier besteht eine ausgewiesene Kompetenz, die in dieser Weise weder von Theologinnen und Theologen, noch von Künstlerinnen und Künstlern, noch von Architektinnen und Architekten erwartet werden kann. Es geht um die umfassende, gottesdienst-zund frömmigkeitsbezogene Kompetenz für die Gestalt des christlichen Glaubens. Künstlerische Impulse und kunsthandwerklichz-technische Umsetzung in den Werkstätten greifen ineinander. Bewahrung und Pflege überlieferter traditioneller Herstellungsverfahren und Fertigungstechniken wie Offenheit für technologische Innovation in der Textilkunst. Die Leitung von Paramentik-Werkstätten durch ausgewiesene Textilkünstlerinnen und deren enge Zusammenarbeit mit Künstlerinnen und Künstlern sind mögliche Wege. (5) Grenzüberschreitung zwischen Leben und Tod Im Rahmen einer zukünftigen Erweiterung der Aufgaben der Paramentik wird sich der morgige Paramententag auch mit der Frage der Sepulkralkultur beschäftigen und nach Wegen suchen, wie die evangelische Paramentik sich hier einbringen könnte. Erste Ansätze bestehen in der Gestaltung von textilen Hüllen für Aschenurnen bei der Urnenbeisetzung durch die Darmstädter Werkstatt oder in der Gestaltung eines angemessenen Leichen-, bzw. Bahrtuches für Palliativstationen und Hospize durch die Berliner Werkstatt von Christina Utsch mittels des Jacquard-Webstuhls, der die Fertigung individueller Seidenstoffe ermöglicht. Dazu gehört die Anfertigung von Totenhemden, die seit Wilhelm Löhe zum Kanon der in der Paramentik hergestellten textilen Gegenstände für den Glaubensvollzug gehört und hier in der Paramentik von St. Marienberg noch gepflegt wird, in Korrespondenz zum Taufkleid, das ebenfalls hier hergestellt und angeboten wird. Das damit verbundene Anliegen ist, auch hier der Individualität und Würde des zu Ende gegangenen menschlichen Lebens auf der Gestaltungsebene Ausdruck zu verleihen und auch auf dem letzten irdischen Abschnitt qualitätvolle Arbeiten zu liefern, anstelle wie noch bei den meisten Bestattern üblich auf Serienware zurückgreifen zu müssen. (6) Grenzüberschreitung zwischen den Konfessionen Seit langem zählen auch katholische Paramentikerinnen und Paramentiker zu den regelmäßigen Gästen auf den Paramententagen der Marienberger Vereinigung. Auf katholischer Seite fehlt in Deutschland eine der Marienberger Vereinigung für evangelische Paramentik vergleichbare Dachorganisation und gemeinsame Interessenvertretung. Daher wird schon seit längerem über eine konfessionelle Öffnung der Marienberger Vereinigung nachgedacht. Die heute beschlossene Satzungsänderung mit der Veränderung des Vereinsnamens von bisher „Marienberger Vereinigung für evangelische Paramentik“ in „Marienberger Vereinigung für Paramentik“ und die satzungsmäßige Öffnung für die katholischen Werkstätten stellt die aktuellste Grenzüberschreitung der kirchlichen Textilkunst dar. Wir verbinden damit die Hoffnung, durch das gute Miteinander zukünftig noch viel mehr voneinander lernen und profitieren u können.
Ausblick: Ich habe Ihnen sechs Grenzüberschreitungen der kirchlichen Textilkunst vorgestellt, die sich in den neunzig Jahren ihres Bestehens an der Marienberger Vereinigung für evangelische Paramentik aufzeigen lassen: Die Grenzberschreitung (1) der historistischen Stilformen der klassischen evangelischen Paramentik des 19. Jahrhunderts hin zur Heimatkunst und Neuen Sachlichkeit seit 1924; (2) durch die enge Zusammenarbeit der Werkstätten in West- und Ostdeutschland während der Zeit der deutschen Teilung 1945 bis 1989; (3) im christlichen Gottesdienst leiblich-sinnlich vermittelte Grenzüberschreitung wischen Himmel und Erde, (4) die Grenzüberschreitung wischen Handwerk und Kunst; sowie (5) zwischen Leben und Tod und schließlich (6) zwischen den getrennten christlichen Konfessionen seit 2014 durch die ge-änderte Satzung der Marienberger Vereinigung. Hervorheben möchte ich abschließend die Offenheit der Marienberger Vereinigung für Paramentik für neue Grenzüberschreitungen durch die Herausforderungen, die auf die Werkstätten und ihre Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter warten. Offenheit für innovative Herstellungstechniken und Pflege klassischer handwerklicher Techniken zugleich. Die Aufgabe lautet unverändert: An der Grenze wischen Handwerk und Kunst, wischen Liturgie und ihrer Materialität, zwischen Sagbarem und Nichtsagbarem sich zu bewegen, offen zu bleiben und an der Ausdrucksgestalt des Glaubens künstlerisch gestaltend zu arbeiten, um den Gottesdienst Feiernden eine sinnliche Ahnung von dem zu vermitteln, dass uns im Kirchenraum und in den gefeierten Gottesdiensten der auferstandene Christus und Herr seiner Kirche begegnet, dem letztlich alle künstlerischen Bemühungen und aller Schmuck zur Ehre gebührt. Die Arbeit an dieser Grenze soll auch nach neun Jahrzehnten fortgesetzt werden, weil es sich um eine großartige Aufgabe handelt: am Schmuck der Heiligen Orte u arbeiten. So haben wir versucht, in der neuen Satzung auch eine zeitgemäße Formulierung für die Aufgabe der Marienberger Vereinigung für Paramentik zu finden. Daher heißt es zukünftig in §1 zu Zweck und Aufgaben: „(5) Zweck der Körperschaft ist die Förderung der Paramentik als der auf Gottesdienst wie Kirchenraum bezogenen Textilkunst im Raum der Kirchen. (6) Zur Verwirklichung ihres Satzungszweckes pflegt die Marienberger Vereinigung für Paramentik insbesondere das fachliche wie geistliche Gespräch unter den Werkstätten. Sie bemüht sich um den Kontakt zu den das Anliegen der kirchlichen Textilkunst bearbeitenden, akademischen, künstlerischen wie theologischen Disziplinen und fördert ihrem Satzungszweck entsprechende Forschungsvorhaben. Zu ihren Aufgaben gehören der Erfahrungsaustausch ihrer Mitglieder untereinander, das Angebot gemeinsamer Aus-, Fort- und Weiterbildung wie die Pflege traditioneller kunsthandwerklicher Techniken und die Entwicklung innovativer Herstellungsverfahren für die kirchliche Textilkunst. Sie führt gemeinsame Ausstellungen und Wettbewerbe durch und berät die Mitgliedswerkstätten und ihre Träger in allen die Paramentik betreffenden Angelegenheiten. Damit dient sie dem geistlichen Zusammenhalt der Paramentik als einer auf das gottesdienstliche Handeln der christlichen Kirchen bezogenen Disziplin wie der Vergewisserung ihres kirchlichen Auftrags.“