Erweiterung des Begriffs Paramentik im Spannungsfeld neuer Herausforderungen:
parare locum liturgicum
Zwischen Tradition und Innovation
Die moderne Paramentik ist ein hervorragendes Beispiel für das Spannungsfeld, in dem sich moderne Kirchengemeinden in den ersten Jahrzehnten des 21. Jahrhunderts bewegen. Da man zurecht von der Tradition innerhalb der Kirchen im allgemeinen und von liturgischen Textilien im speziellen eine gewisse Standhaftigkeit gegenüber gesellschaftlichen Strömungen und Moden erwarten kann, werden auch auf der Gestaltungsebene gern historische Bezüge gesucht. Da Paramente seltener kritisch betrachtet werden, stellt sich häufig gar nicht die Frage nach zeitgenössischen Varianten. Sobald aber Farben unansehnlich, d.h. verschossen sind und das Material aus der Form gekommen ist, muss eine Neugestaltung thematisiert werden. An diesem Punkt geht es in der Auseinandersetzung innerhalb von Gemeinden meist um mehr als eine bloße Erneuerung. Denn einige setzen unausgesprochen voraus, an der traditionellen Formensprache festhalten zu müssen, andere können sich keine Varianten zu Kreuz- und Christussymbolen vorstellen und wieder andere vertreten schlicht die kostengünstigste Variante. Dabei geht es nicht nur um Meinungen oder Geschmäcker, sondern um Überzeugungen, Glaubensgrundsätze und die Überhöhung persönlicher Erfahrungen. Auch wenn Diskussionen, Informationen, visualisierte Beispiele und digital erstellte Gestaltungsmuster aus verhärteten Erwartungshaltungen heraushelfen können, ist dennoch von einem längerfristigen und produktiven Prozess auszugehen, auf den sich die Gemeinden bei Veränderungsmaßnahmen einstellen sollten. Gerade weil zwar die Amtstracht und das Tragen von Stolen in den Kirchenjahresfarben kirchenrechtlich verankert ist, die liturgischen Textilien aber keinen schriftlich niedergelegten Richtlinien unterliegen, müsste diesem Prozess über die Diskussion zwischen Paramentenwerkstätten und Gemeindevertretern hinaus ein größeres Augenmerk gelegt werden.
Liturgische Textilien unterliegen gemeinhin einer vertrauten Vorstellung von Gestaltung, Symbolik, Farbe und Material. Diese Konvention wird zum Teil mit guten Gründen akzeptiert und als Stärkung empfunden, da sie für Beständigkeit des Christentums steht. Auch der Ritus, eine konsequent strukturierte Liturgie, gehört zu den tragenden Pfeilern christlicher Kirche. Viele Menschen verbinden mit dem Erscheinungsbild des Kirchenraumes existentielle Erfahrungen und möchten ihn auch im Alter noch so erleben, wie er bei ihrer Taufe und Konfirmation ausgesehen habe. Sofern es in der Form eine Konstante gibt, blieben auch die Inhalte traditionsbehaftet und augenscheinlich verlässlich. Diese Haltung ist im Hinblick auf diejenigen, die ein statisches Lebensumfeld benötigen, nachvollziehbar. Allerdings zeichnet sich eine lebendige Religiosität immer durch ein Spannungsfeld sowohl traditioneller Formen als auch zeitgenössischer Ausdrucksformen, Grundlagentexten und moderner Auslegung, historischer Gebäude und modernem Gestaltungswillen aus. Persönliche Befindlichkeiten können zwar diskutiert werden, sind aber ausschließlich Privatmeinungen! Jede Person kann sich in die Diskussionsprozesse einbringen, und sei es auch nur über die Vertreter*innen des Gemeindekirchenrates. Das Private wird deshalb nicht ausgeschlossen oder eliminiert, nur dass der eigentliche Ort für persönliche Bedürfnisse das Haus bzw. das Wohnzimmer ist. Emotionale,
extravagante und provokante Bedürfnisse sollten sich auch auf den Ebenen der Gemeindearbeit demokratisch legitimierten Prozessen stellen. Mit guten Begründungen und einer gesunden Mehrheitsfindung kann außerordentlich viel möglich sein. Allerdings müssten meines Erachtens diese Prozesse bei allen Gestaltungsfragen erst in der gebotenen Intensität eingeübt werden. Im Bezug auf die Probleme bei der Entscheidungsfindung wird umso deutlicher, dass für das Fachgebiet der Paramentik eine sehr dünne Basis an Literatur zur Meinungsbildung zur Verfügung steht. Zwar können sich Gemeindeglieder für anstehende Diskussionen in verschiedenen Kirchen umschauen, homepages zur Kenntnis nehmen und auf einzelne Zeitschriften und Bücher zurückgreifen. Ein Meinungsbild über den aktuellen Stand der Diskussion erschließt sich auf diese Weise nicht.
Natürlich stellen gestalterische und textiltechnologische Konventionen wie auch die Schrift „Der Schmuck der Heiligen Orte“1 inclusive Literaturliste Richtlinien für die Entscheidungsfindung dar. Periodika, wie es sie für die Architektur und Kunst des Kirchenraumes gibt, stellen ein Desiderat dar. Die Tatsache, dass die Gestaltung nicht wirklich geregelt ist, bringt einerseits eine große Freiheit in einem eher durchstrukturierten Kosmos mit sich. Diese Freiheit bietet ein unglaublich hohes Potential, das eigentlich wie eine Kostbarkeit gehütet werden müsste. Der Begriff der Freiheit ist allerdings nur in Schattierungen zu haben, weshalb er auch Enttäuschungen mit sich bringt. Freiheit im Umgang mit Gestaltungselementen, in einem Raum, in dem man sich nach einer Richtline, nach der Agende versammelt und Gottesdienst feiert, ist schwer auszufüllen. Diese Variabilität schafft Unsicherheiten und wirft Fragen nach „dem Richtigen“ auf, gerade weil sie wenig glaubhaft daherkommt: es ist gerade für die Gottesdienstpraxis wesentlich, einem liturgischen Ritus, den canones gemäß zu zelebrieren, auf einen Fundus von Chorälen zurückzugreifen, der nach Kirchenjahreszeiten eingeteilt ist und Sakramente gemäß den Kasualien durchzuführen. Für die Ausarbeitung einer Predigt steht das Fach Hermeneutik zur Verfügung und für die Bibelauslegung sollten Pfarrer*innen auf den hebräischen bzw. griechischen Urtext zurückgreifen können und entsprechende „Kommentare“ in der Handbibliothek stehen haben. Ohne diese Reglementierungen wäre es fraglich, ob man sich rings um den Globus auf eine Gottesdienstkultur verlassen könnte, an der man mit gewisser Kenntnis und Übung wirklich teilnehmen kann. Genauso wesentlich ist, dass man sich relativ sicher sein kann, nicht mit komischen Privatmeinungen, Parteiinteressen sowie unrelevanten Kleinigkeiten konfrontiert zu werden. Dieses abgewogene geistliche Gut ist sehr kostbar und verdient alternativlos bewahrt zu werden.
1 Löhe, Wilhelm: Vom Schmuck der heiligen Orte. 1857/58. Kommentiert und bearbeitet von Beate Baberske-Krohs und Klaus Raschzok. Leipzig 2008.
Gestalterische Anker der Konvention
Der Umstand einer besonderen Freiheit in Gestaltungsfragen der Paramente macht aber auch deutlich, dass die Freiheit für eine Kultusgemeinde sogar ungewöhnlich ist und eigentlich besonderer Beachtung bedürfte. Weil nicht jedes Mittel recht sein kann, überhaupt Paramente an den Altar zu hängen, ist es notwendig, sowohl die theologischen und liturgischen, als auch die architektonischen, künstlerischen und technologischen, als auch die historischen und
kunstwissenschaftlichen Seiten zu berücksichtigen. Im Übrigen besteht die Kritik an der Wirkung vieler Paramente gerade darin, dass man ihnen ihren „gut gemeinten“, aber selbstgebastelten Status ansieht. Diese Tatsache an sich ist noch kein Problem, wohl aber das offenkundige Versäumnis eines vernünftigen Entscheidungsprozesses. Die Alternative, solchen Unfug unterbinden zu wollen, indem man die Paramentik komplett sein ließe, befördert augenscheinlich derlei Praxis. Es wird meines Erachtens auch weiterhin einen Rahmen benötigen, damit auch bei der Gestaltung von Paramenten ein gesundes Maß an Tradition und Moderne einfließen kann. Unter dem Begriff Rahmen kann man ein festes Regelwerk verstehen, das, wie ausgeführt, weder gegeben noch angestrebt ist. Ein Rahmen kann aber auch variabel sein, in dem Sinn, dass einzelne Elemente beibehalten werden, wieder andere aber zeitgenössischen Ausdrucksformen folgen. So könnten beispielsweise das Material und die liturgischen Farben als Anker der Konvention dienen, aber Freiheiten in der Form erprobt werden. Oder man nutzt ein Zeichen, ein Symbol, ist aber bei der Wahl des Materials kreativer; oder erprobt moderne Gestaltung bei traditionellen Techniken. Auch wahrnehmungspsychologisch basierte Angebote können spannend sein, könnten aber gemäß dem liturgischen Farbenkanon präsentiert werden. Für zeitgemäße Paramente im größeren Kontext kann das Thema Nachhaltigkeit nur angerissen werden. Auf der Materialebene könnten nicht nur traditionelle Stoffe bzw. historische Techniken als Ankerelement fungieren. Der Gebrauch von Beleuchtungskörpern, LED- Lämpchen oder auch Screens müssen dringend diskutiert werden. Meines Erachtens ist die Qualität dieser Lichter zwar spannend, trägt aber weniger zur Ankerfunktion bei. Unabhängig davon liegen mir künstlerische Arbeiten näher, die unabhängig von einer Stromzufuhr funktionieren und das Tageslicht als Zufallselement, als Quelle grundsätzlich unverfügbarer Energie, zu nutzen.
Ich denke, dass in den letzten Jahrzehnten bereits innerhalb dieses Rahmens moderne Paramente konzipiert und geschaffen wurden. Bezüglich der notwendigen Diskussionsforen könnten Begründungszusammenhänge besser herausgestellt und argumentativ aufbereitet werden. Darüber hinaus müssen diese zwangsläufig für den theologischen Diskurs als auch die Gemeindearbeit zugänglich gemacht werden.
Gestalterische Ankerelemente in Zeiten der Corona-Pandemie
Notgedrungener maßen müssen wir in dieser schwierigen gesellschaftlichen Situation auf geistliche und kulturelle Werte verzichten, obgleich deren Kontinuität in Krisenzeiten erfahrungsgemäß Trost und Halt spenden sollte. Verzicht und Zurückgezogenheit führen zu einer klaffenden Lücke, die zwar durch Disziplin, einem Leben mit digitalen Medien oder persönlichen Alternativen gefüllt werden, aber auch zu Gefühlen des Versinkens, der Leere sowie zu Wut und Zorn führen können. Die Lücke im Zeitkontingent der Verantwortlichen wird derzeit durch die Aktualisierung der Durchführungsbestimmungen gefüllt, inhaltlich bleibt sie häufig leer. Das, was an Gemeinschaft, Bibelarbeit, der Feier von Gottesdiensten, Interaktion, passiv und aktiv erlebter Musik fehlt, kann auf einer alternativen Wahrnehmungsebene nicht ausgeglichen werden. Vor allem aber sind jahrhundertelang bewährte Formen der Verständigung problematisiert worden, die für das Leben existentiell sind. Zwischenmenschliche Kommunikation unterliegt komplexen Ausdrucksformen und geht weit über die Codierung und
Decodierung von Sprache hinaus. Verstehen und verstanden werden bedarf Vertrauen in verbale Medien, wobei es keine Sicherheit für das Gelingen gibt. Kommunikation ist unmittelbar an Gestik, Mimik und Körperhaltung sowie das Umfeld gebunden. Diese Formen der nonverbalen Kommunikation sind in der Menschheitsentwicklung mindestens so stark verankert wie Sprache an sich. Das Beispiel der Konvention, sich als Zeichen des Vertrauens die offene Hand zu reichen, damit das Gegenüber sehen kann, dass sie keine Waffe führt, macht das Dilemma deutlich: visuell wahrnehmbare Zeichenhandlungen gelten für sichtbare Gefahren, während sich die Viren auf gemeine Weise der Erkennbarkeit entziehen, also Vertrauensmechanismen untergraben. Ein weiteres Beispiel betrifft gemeinsames Speisen, das den Körper, die Seele und den Geist stärkt, ebenfalls auf Vertrauen beruht und Gemeinschaft stiftet. Die Feier des Abendmahls gehört nicht nur innerhalb der christlichen Kirchen zu den konstitutiven Formen einer Religionsgemeinschaft. Unter den gegebenen Sicherheitsvorkehrungen kann zwar die Eucharistie zelebriert werden, ob sie aber den Eindruck eines festlichen Ereignisses hinterlässt, sei dahingestellt.
Die Entwicklungen unter Pandemiebedingungen weisen auf ein anderes Paradox hin: Innenräume gelten eigentlich als Schutzräume, als architektonischer „Schirm“ gegenüber den Wetterunbilden Wind und Regen, Kälte und Hitze. Worte, gesprochene Texte und Musik lassen sind in Innenräumen besser nachvollziehen und es fällt leichter, sich als Gemeinschaft zu formieren und sich auf ein Zentrum zu fokussieren. Das Feiern von Gottesdiensten im Speziellen und die Feste religiöser Kultusgemeinschaften im Allgemeinen sind natürlich in einem Gotteshaus strukturierter, kanonisch „richtiger“ also liturgisch überzeugender. Die Tatsache, dass Vorhersehbarkeit, also Rituale, bei Menschen Vertrauen und Sicherheit hervorrufen, ist ein starkes Argument für Wiederholbarkeit von Handlungen an denselben Orten zu bestimmten Zeiten. Nun gehört es zu den Dilemmata in Coronazeiten, dass Räume, die eigentlich Schutz bieten sollen, vor molekularen Anfeindungen nicht bewahren können. Im Gegenteil, sie entwickelten sich in einer lebendigen Gemeindearbeit zum Risikoort.
Um diesem Dilemma zu begegnen möchte ich zwei Varianten aufzeichnen:
Ästhetische Besinnung
Das Gesamtkunstwerk eines Gottesdienstes ist ohne jeden Zweifel unersetzlich. Allerdings ist nicht jeder Gottesdienst unersetzlich. Daher geht es aktuell um die Frage, was eine Gemeinde Sonntag -Vormittag konkret bewirken möchte.
Wenn die Predigt per e-mail rezipiert, also nicht zwangsläufig von der Kanzel gesprochen wird, könne auf der Textebene Literatur zum eigenständigen Lesen und überdenken ausliegen oder aushängen. Das könnten Bibelverse, religiöse Zitate oder Gebetsangebote sein, aber auch thematisch passende Lyrik. Auf den Farbenklang eines Orgelchorals, der den Gemeindegesang nicht begleiten darf, muss verzichtet werden. Aber ein orchestrierter Klang könnte auch sehend wahrnehmbar sein. Für Angebote für einen Augenblick des Innehaltens, der Konzentration oder einer visuellen Erfahrung stellen traditionell Kunstwerke einen „ästhetischen Anker“ dar. „Klänge“ könnten probehalber durch textile Farbkombinationen ersetzt werden. Die Wahrnehmung ist auch durch eine unerwartete Beleuchtung einer bereits bekannten Plastik zu schärfen oder man
integriert ein unabhängiges Kunstwerk, über das sich austauschen lässt. Installationen, die unabhängig von einer bestimmten Stunde zu besuchen sein können, aber mit der Liturgie in irgendeiner Weise korrespondieren, können kostbare Erfahrungen stiften.
Für die persönliche, distanzbasierte Andacht möchte ich an dieser Stelle auf die textilen Materialien und Techniken verweisen, die sich der Flexibilität halber seit Jahrhunderten für variable liturgische Paramente eignen. Ohne Konventionen in Form, Material und Technik aber in Vielfalt durch deren Kombination dienen temporäre Paramente der ästhetischen Rezeption. Ein visuell wahrnehmbares Erlebnis, dem eine künstlerische Konzeption vorausgeht, vermag eine spirituelle Wirkung zu entfachen, vermag Emotionen zu fördern und Trost zu spenden. Kunstwerke können eine Menge zum Ausdruck bringen und im Betrachter bewirken, wenn es zu einem Austausch kommt, wenn eine nonverbale Kommunikation gelingt. Da die Wahrnehmung unwillkürlich und beständig über fünf Sinne und deren Verarbeitung im Hirn funktioniert, können mittels innovativer Gestaltungsangebote Gedanken und Gefühle evoziert werden, die auch sonst zum Besuch kirchlicher Veranstaltungen gehören (oder auch nicht). Jede Gottesdienstfeier weist über das rezipierte Wort, die textbasiert Predigt hinaus, unabhängig, ob diese anthropologischen wahrnehmungspsychologischen Mechanismen mitbedacht sind oder nicht. Das, was eigentlich im Gottesdienst geschieht und derzeit empfindlichen Einschränkungen unterliegt, ist als solches nicht zu ersetzten – aber durch alternative Angebote zu füllen. Zelebrierte Liturgie, die mangels Gemeindefeier nicht angeboten werden darf, muss über digitale Medien notdürftig funktionieren. Aber das Untersagen von Gemeinschaft bedeutet m.E. nicht, auf Emotionen, Stärkung und Solidarität verzichten zu müssen. Dazu reicht es aus, das Medium zu hinterfragt: Wahrnehmung von gestalteten liturgischen Textilien, Beispielen für optische Perspektivwechsel oder Kunstwerken unter sozialen Einschränkungen, zumal im Außenraum, kann nicht grundsätzlich verhindert werden dürfen. Ästhetische Angebote, erinnerte Bilder oder verinnerlichte Gedichte sind – vergleichbar mit Gedanken – unter dem Begriff Freiheit zu fassen und realistischer Weise nicht unter dem Diktat des „dürfens“ einzuschränken. Allerdings sollte meines Erachtens der Bedeutungshorizont einer ästhetischen Andacht weiter reichen, als durch eine Kerze oder eine Steinschlange geschieht.
Gottesdienste im Außenraum
Als im Sommer 2020 die ersten Gottesdienste auf der Wiese unter einem Baum stattfanden, war ich begeistert. Die Eindrücke von Vogelgezwitscher, Ameisen im Gras, Sonnenstrahlen, die hinter der Kirche herumwandern und das Geräusch von Wind in den Blättern schufen Verknüpfungen auf emotionalen und theologischen Ebenen, die sonst theoretisch angesprochen wurden. Die Metaphern aus Flora und Fauna waren unmittelbar wahrnehmbar und nicht erst zu sehen, wenn man aus dem Raum ins Freie trat. Chorsingen unter Bäumen, Seminarsitzungen im Park und Dienstgespräche während eines Spaziergangs wären ohne die Einschränkungen der Pandemie niemals erprobt und als Befreiung empfunden worden. So manch eine Situation konnte leichter, unbeschwerter durchgeführt werden, solange man sich in der warmen Jahreszeit befand. Neben digitalen Angeboten wurden vielerorts kreativ gestaltete Stationen im und um den Kirchenraum herum für die private Andacht zur Verfügung gestellt. Zugegebener maßen konnte sich auch bei mir die Weihnachtsstimmung ohne vertraute
Christvesper nur schwer einstellen, aber irgendetwas konnte trotzdem gelingen. Verkündigung und Gottesdienst ist als Einheit zu betrachten – oder doch nicht? Ist es eine Frage der Abwägung, in wie weit es der Konventionen, der Liturgie, des Raumes und wortgewaltiger Texte bedarf, um Gottesdienstes zu feiern oder ob auch ästhetische Beispiele, ein festlich gedeckter Altar vor der Kirche (mit und ohne gemeinsame Feier) oder eine liturgische Installation religiöse Erlebnisse evozieren können? Welche Elemente sind auch außerhalb ritualisierter Orte anzubieten? Was bedeutet es, sich möglicherweise längerfristig Veranstaltungen in Außenräumen vorzustellen und an welchen Bedingungen wären diese geknüpft? Auf welche historischen Beispiele könnte man zurückgreifen?
Veranstaltungen, in denen beispielshalber ein Publikum von mehreren Hundert Zuschauern bedient wurden, waren Theateraufführungen in der klassischen Antike. Hierbei saßen die Teilnehmenden auf ansteigenden und im Halbkreis angeordneten Rängen, die von radial geführten Stufenanlagen durchbrochen waren. Hierfür boten sich Hänge und schräg verlaufende Felsenformationen an, also natürlich gewachsene Orte. Im Zentrum lag eine freie, kreisförmige Fläche. Im Hintergrund gab es eine erhabene Bühne und ein rückwärtig errichtetes Gebäude, die „scene“, auf denen die Schauspieler agierten. Akustisch und optisch müssen diese Anlagen im Gegenüber von Sprechern und Publikum hervorragend funktioniert haben. Die Bezugsrichtung wäre, wie beim traditionellen Kirchenbau oder der Anordnung im Klassenzimmer, als „frontal ausgerichtet“ zu bezeichnen. In der Römischen Antike setzte sich das schaulustige Volk auch mit Gladiatorenkämpfen und inszenierten Kampfszenen auseinander, für die die Ränge um eine ovale Spielstätte, also „radial“ angelegt waren. Aufgrund der topografischen Situationen in den alten Metropolen wurden riesige Gebäude ähnlich moderner Stadien errichtet, um die Ränge inclusive Zuwegung und Ausgang anzuordnen. Das bedeutendste Beispiel steht als Kolosseum in Rom, in dessen architektonischer Nachfolge im weitesten Sinn zeitgenössische Stadien und Arenen errichtet werden. Auch antike Tempel waren Orte, an denen heilige Handlungen vollzogen wurden, insbesondere das Darbringen von Opfern für die entsprechenden Gottheiten. Hierbei versammelte sich die Gemeinschaft vor dem Tempel, vor dem auch der steinerne Opferaltar stand. Tempel sind immer über einem Podium mit zusätzlicher Treppenanlage errichtet worden. Auf diese Weise konnte man den rituellen Weg der Priester in den Tempel, in dem das Bild der Gottheit aufgestellt war, nachverfolgen.
Ränge und Bühne in frontaler Anordnung sind aber auch für Theateraufführungen z.B. im Globe-Theater in London aus dem beginnenden 17. Jh. bekannt, in den die Stücke von William Shakespeare gespielt wurden. Marktplätze mit Balkonen oder hölzernen Podien, die als Rednerbühnen fungierten, dienten über viele Jahrhunderte als Versammlungsplätze mit unterschiedlichen Funktionen, bei denen es auch um das verstehende Hören und anteilnehmende Sehen ging. Der Ort, von dem der Papst den Segen „urbi et orbi“ schenkt, mag hierfür als prominentes Beispiel dienen. Reliquienweisungen des ausgehenden Mittelalters waren vor allem auf eine perfekte Visualisierung angewiesen, weshalb Balkone, wie an dem Hauptsitz Kardinal Albrechts von Brandenburg in der halleschen Moritzburg, stadtseitig errichtet wurden. Auf dem Heiligenberg bei Heidelberg ist die sog. Thingstätte aus den 1930-er Jahren ein besonderes Beispiel für eine Anlage, die akustisch so gut funktioniert, dass hunderte Zuschauer die propagandistischen Reden verstehen konnten. Hier sind die Ränge über einem Oval an einem Hang angeordnet. Die Fläche der Bühne ist erhaben und rückwärtig befindet sich
ein kreissegmentförmiges Gebäude, das man ebenfalls besteigen kann. Auch wenn der Anlass ihrer Erbauung hochproblematisch ist, ist diese Anlage dennoch ein wichtiges Beispiel für konzipierte Veranstaltungsorte im Freien.
Nach den Beispielen aus dem Außenraum sei auf die horizontale Ebene von Kirchenräumen verwiesen, in denen die akustischen und visuellen Probleme für hunderte Besucher auf spezifische Weise gelöst wurden. Meist ist nicht nur der Altarraum um einige Stufen erhaben, sondern auch der Hauptaltar wurde über weitere drei Stufen errichtet, so dass das Geschehen von der religiösen Gemeinschaft, die eben steht, wahrgenommen werden kann. Diese Gebäude erreichten seit dem Hochmittelalter Ausmaße, um im geschützten Rahmen Messen, Stundengebete, Prozessionen und profane Veranstaltungen durchzuführen, für die sich bisher kein Innenraum anbot. Sowohl bei Romanischen Basiliken als auch im gotischen Kathedralbau wurden Emporen in sämtlichen Bauteilen integriert, die die Sicht aus der Vogelperspektive ermöglichte. Strukturell wäre zusammenzufassen, dass sich entweder die Zuschauer in ansteigenden Rängen platzieren, um einen Blick auf einen unterhalb liegenden Ort zu bekommen oder aber das Geschehen, um das es geht, auf einer Art erhabener Bühne stattfindet. Dabei geht es einerseits um das Sichtbarmachen von agierenden Personen und heiligen Gegenständen, andererseits um das akustische Verstehen einzelner oder weniger Personen für eine größere Menschenmenge. Die für die Messfeier zentrale Elevatio der Hostie mag hier als Beispiel genügen. In irgendeiner Form muss also der Blickwinkel von unterschiedlichen Plätzen auf einen zentralen Punkt gewährleistet sein. Ob sich das akustische Verstehen auf dasselbe Zentrum bezieht, z.B. einen Altar im Kirchenraum, oder auf unabhängige Orte, wie Ambonen, eine Kanzel für die Predigt oder Balkone und Lettner für liturgische Gesänge, hängt von der Art der Veranstaltung ab.
Da wir uns in einer mehr oder weniger bedeutsamen Zäsur befinden, könnte es zukunftsweisend sein, Versammlungsorte im Freien zeitnah zu bedenken, zu planen und zu erproben. Das Gefühl für Innenräume wird für viele Menschen nach den Monaten des lockdown anders sein, vielleicht bedrückend und beängstigend. Es gehört zu den Dilemmata in Coronazeiten, dass Räume, die eigentlich Schutz bieten sollen, vor molekularen Zellhaufen eben nicht schützen. Besucher müssen sich erst recht vorsehen und auf Abstand gehen. Es ist kaum sinnvoll, Probleme in Krisenzeiten kleinzureden oder zu übergehen. Dazu sind beispielsweise die Veränderungen innerhalb der Wahrnehmung, Gemeinschaftsfähigkeit und Kommunikation zu groß. Sobald man mit Konventionen bewusst umzugehen lernt, kann man erfolgreich Alternativen suchen. Denn ohne Innovationen bliebe weder das Leben noch eine Gesellschaft noch eine religiöse Gemeinschaft lebendig.
Gottesdienste auf der Wiese hinter der Kirche sind kurzfristig wunderbare Veranstaltungen, eignen sich aber kaum als dauerhafte Lösung. Sie bieten selbst unter klimatisch passenden Umständen eben nicht die Bedingungen, unter denen eine Gemeinschaft zusammenfindet, an der Liturgie teilhaben und Predigten mitverfolgen kann. Nicht nur, dass irgendwann geschwatzt und mobile Nachrichten durchgesehen würden. Das Empfinden einer gemeinsamen Feierstunde könnte abflachen und zu Enttäuschungen führen, was sich Kirchengemeinden rein rechnerisch gar nicht erlauben können. Daher wäre es sinnvoll, Bedingungen für ein mögliches Gelingen aufzuzeigen. Für die versammelte Gemeinschaft ist also der Blickwinkel auf ein oder mehrere Zentren notwendig, um sich optisch und inhaltlich fokussieren zu können. Entweder bieten sich
in historischen Gebäuden Treppenanlagen, Mauerzüge oder Flächen im Außenraum an, die optimaler Weise etwas abgeschirmt, aber unter freiem Himmel sind. Akustisch sind entweder Gebäude, Mauern, natürliche Berge oder ein Kreuzgang sinnvoll, wenn jegliche Art architektonischer Gestaltung ausgeschlossen sein soll. Treppenanlagen zu errichten, eine Schräge auszuheben und eine Fläche zu planieren sollte nicht gänzlich ausgeschlossen bleiben.
Für das Fachgebiet der Paramentik möchte ich an dieser Stelle das Augenmerk auf das visuelle Zentrum legen. Als Gegenstände sind die Heilige Schrift, die Agende und ein Kreuz unumgänglich, gegebenenfalls tragen windgeschützte Kerzen und Blumenschmuck zu einer festlichen Atmosphäre bei. Diese Objekte benötigen eine erhabene Ablage, einen Tisch oder einen Außenaltar, um wahrgenommen und abgelegt zu werden. Selbst der Tisch einer Bierzeltgarnitur, von denen besser zwei oder drei verwendet werden sollten, mag als Variante dienen. Nur legt man wirklich eine Bibel, ein Kruzifix guten Gewissens auf irgendeine Holzplatte oder einen Steinblock? Selbst die Vorstellung eines Geschirrtuschs oder einer Picknickdecke, die für ein Pausenbrot absolut ausreichend wären, scheint absurd. Aber weshalb? Weil zumindest ein weißes, sauberes und nicht kleinliches Tuch wenigstens im Ansatz an einen Altarläufer erinnert. Das, was an ästhetischen und symbolischen Bezügen normalerweise durch eine Altardecke vermittelt wird, könnte man besser noch durch das kreuzweise Auflegen von weißen Damast -Tischdecken bewirken. Auch Varianten zum leinenen Corporale dienen der Wertschätzung unter veränderten Voraussetzungen. Mit dem Anzeigen der Kirchenjahreszeit mittels eines farbigen Stoffes als Unterdecke, das im Faltenwurf unter einem kurzen Altartuch herabfällt, mag an die originäre Funktion farbiger Paramente erinnert werden, die bereits in spätantiker Zeit zu einem festlich gedeckten Tisch gehörte. Auch traditionelle Antependien würden den Unterbau eines Tisches wenigstens teilweise verdecken, eine Aufgabe, die historisch zu deren Entwicklung beigetragen hat. Hierbei steht die Qualität der Paramente im mittelbaren Verhältnis zum Gelingen einer Gottesdienstfeier unter alternativen Bedingungen. Darüber hinaus können diese optischen Eindrücke das Interesse wecken, sofern die Akustik zu wünschen übriglässt. Die Platzierung möglicher Paramente ist grundsätzlich vielfältig. Da aber ohnehin mehrere Variablen aufeinander zu beziehen sind, bietet sich der Altartisch als visuelles Zentrum besonders an. Hier
Parare locum liturgicum
Die liturgische Farbe ist, wie ausgeführt, auch materialiter in der unmittelbaren Umgebung kenntlich zu machen. Die Varianten sind fast Grenzenlos und könnten während oder unabhängig von Gottesdiensten ästhetische Akzente setzen, also vergleichbar mit Antependien im Kirchenraum, eine liturgische Stellvertreterfunktion für die Zwischenzeiten einnehmen. Transparente Stoffe, Fahnen, die im Windzug schwingen, linear akzentuiere Gebäudekanten oder farbig gestaltete Objekte mögen als Beispiele genügen. Die originäre Funktion der Paramentik, den Altartisch, die Mensa für die Feier der Messe vorzubereiten und die Kleriker geistig und geistlich auf ihre heiligen Handlungen einzustellen (lat. parare mensam = den Altar bereiten), wird dem erweiterten Begriff der Paramentik allerdings nicht gerecht. Liturgische Textilien schmücken und kennzeichnen in diesem Rahmen nicht nur einen kultisch konnotierten Altar, sondern einen spezifischen Ort, lateinisch locus, mit einer rituellen Funktion, lateinisch
liturgicus. Dabei verschiebt sich in pandemisch bestimmten Zeiten das Augenmerk auf eine größere Zeitspanne, in der liturgische Textilien ihre Wirkung entfalten sollen, weshalb ich für diese Aufgabe folgende begrifflichen Bezüge vorschlagen möchte: parare locum liturgicum.
Im Hinblick auf den locus liturgicus möchte ich einen weiteren Aspekt zur Sprache bringen. In allen Jahrhunderten, von der Antike bis in die Gegenwart, vom Schauspiel über die Oper zum sog. Off-theater, schlüpfen Schauspieler*innen auf der Bühne nicht nur in Rollen, sondern auch in charakteristische Kostüme. Und während der gesamten Geschichte kleiden sich Amtsträger, auch kultische wie Priester, in eine spezifische Gewandung, die ihre Stellung kennzeichnet. Antike Masken trugen nicht nur optisch dazu bei, die Figuren und deren Charaktere wieder zu erkennen, sondern sie verfügten über eine Art Schalltrichter, die die Akustik unterstützten. Für evangelische Pfarrer*innen gilt der Talar mit Beffchen, ggf. mit Barett, als Amtstracht auch für die Feier von Gottesdiensten im Außenraum. Zu diesen Kasualien unter freiem Himmel gehören bisher vor allem Beerdigungen. Für besondere Christusfeste, zum Beispiel den Ostergottesdienst, wird alternativ das Tragen einer hellen Albe/Mantelalbe mit Stola ermöglicht. Allerdings gehört es zu den wesentlichen Konventionen liturgischer Gewänder, dass sie ausschließlich für den Altardienst oder andere Sakramentshandlungen vorbehalten sind. Der Umgang mit dem schwarzen (und weißen) Talar, der eben kein liturgisches Gewand darstellt, unterliegt einer größeren Freiheit, nicht aber das Tragen von Insignen wie Stolen. Allerdings sind außerhalb Mitteleuropas liturgische Gewänder in den Kirchenjahresfarben nicht gänzlich aus dem Kleiderfundus auch von evangelischen Pfarrer*innen verbannt. In der skandinavischen und anglikanischen Kirche sowie in den meisten osteuropäischen Ländern werden ganz selbstverständlich liturgische Gewänder von beiden großen Konfessionen angelegt. Daher möchte ich in Erwägung ziehen, für die derzeitigen Umstände auch hierzulande das Tragen farbiger Gewänder zu erproben. Da der Gesamtrahmen liturgischer Feiern im Außenraum weniger streng strukturiert ist, könnte eine Gewandung zur besseren Fokussierung am locus liturgicus beitragen. Auf der emotionalen Ebene könnte mit einem farbigen liturgischen Gewand eine sinnstiftende Haltung hervorgerufen werden und das Geschehen von dem Eindruck abgrenzen, nur eine Pause während eines Ausflugs zu sein. Die Liturgen würde man als agierende Hauptperson erkennen und als solche akzeptieren. Natürlich müssten entsprechende Erfahrungen gesammelt, kritisch hinterfragt, ausgewertet und ein entsprechendes Rahmenwerk in Aussicht gestellt werden.
Zusammenfassung
Ich persönlich würde mir wünschen, dass auch auf evangelischer Seite das Anliegen, an der Gestaltung eines locus liturgicus zu arbeiten, ernst genommen würde und man wenigstens den Versuch unternähme, einmal eine eigenständige Formensprache zu erproben. Denn bisher gehört es innerhalb der evangelischen Kirche zum wenig hinterfragten Usus, bei liturgischen Textilien auf mittelalterliche und damit konfessionell bereits eingebundene Paramente zurückzugreifen. Auch wenn Kirchenräume aller Jahrhunderte für mich zu ganz kostbaren Orten gehören, weil sie für alle menschliche Sinneswahrnehmungen Eindrücke bereithalten, tragen Besuche in ihnen nicht selbstverständlich zu bleibenden Erinnerungen bei. Meines Erachtens
wirken manche nicht so überzeugend, öffnen sich Gästen gegenüber nicht so einladend, wie man es erwartete, weil sie hinter ihrem architektonischen Anspruch zurückbleiben. Daher können gestaltete liturgische Orte im Außenraum zweifellos neue Chancen für lebendige Gemeindearbeit bieten. Und liturgisch-ästhetische Angebote könnten Interesse auch bei denen wecken, deren Wahrnehmung stärker an Sinneseindrücke als an Textverständlichkeit geknüpft ist und die mit Enttäuschung auf die vermeidlich bewährte Tradition reagieren. Für eine längerfristige Beschäftigung mit religiösen Veranstaltungen im Außenraum könnte es grundsätzlich produktiv sein, diesbezügliche Beispiele in einem geeigneten Rahmen zu diskutieren, Möglichkeiten der Rezeption anzubieten, gute Innovationen weiterzugeben und deren Finanzierung zu klären. Mit Qualität in einer innovativen Formensprache ließe sich der Horizont im Spannungsfeld zwischen Tradition und Moderne erweitern und das, was hinlänglich als ästhetisches Defizit empfunden wurde, stilbildend ergänzen.
Katharina Hinz
Sandhausen, März 2021